Dass Dortmund kein richtiger Gegner mehr für sie ist, konnte man aus den Gesängen der Bayern-Fans heraushören. Nach dem Tor zum 3:0 äußerte sich darin ausschließlich Ärger über den modernen Fußball. “Ihr macht unseren Sport kaputt!”, schallte es aus der Südkurve des Münchner Stadions. Damit waren DFB, DFL und ihr Videobeweis gemeint, denn zum wiederholten Male war kurz zuvor das Spiel ärgerlich lange unterbrochen worden, damit der Kölner Keller eine mögliche Abseitsstellung mit Millimeterpapier nachmessen konnte.
Nach dem 4:0, dem letzten Tor des Spiels, erinnerten sich die Fans hingegen an den großen Gegner von einst. “Wer wird Deutscher Meister? BVB Borussia!” Eigentlich ein süßlich klingend Lied in den Ohren von Dortmundern, aber nicht, wenn die andere Seite es singt, um sie mit gehässiger Ironie zu verhöhnen. Dann stimmten die Anhänger der Roten noch den deutschen Klassiker an: “Oh, wie ist das schön! Sowas hat man lange nicht gesehn!”
So chancenlos wie kein anderes Team
Doch, hat man. Ist nicht lange her. Im April kam die Borussia als Tabellenführerin nach München und verlor blamabel 0:5. Diesmal wird es kein 5:0, hatten wir vor dem Spiel an diesem 9. November 2019 vorausgesagt. Das stimmte, aber viel anders verhielt es sich nicht. Obwohl die Bayern zuletzt 1:5 in Frankfurt verloren und ihren Trainer tauschen mussten, obwohl der BVB in der Tabelle vor ihnen stand und zuletzt Inter Mailand in einem aufregenden Spiel bezwang, war er bei der 0:4-Niederlage so chancenlos wie keine andere Mannschaft in dieser Saison gegen die Bayern, nicht mal Mainz, schon gar nicht Paderborn, erst recht nicht Bochum. Und so lesen sich die fünf letzten Bundesliga-Resultate des BVB in München … wie soll man sagen … nicht gut:
5:1
4:1
6:0
5:0
4:0
Es war also ein Déjà-vu für die Dortmunder Fans, die, wie auch alle neutralen Fußballfreunde, an diesem Abend besser eine Doku über die Revolution 1989 hätten schauen sollen. Verschont von dieser Schmach wurden nur die Sky-Go-Abonnenten. Die technischen Störungen und das Standbild waren immer noch besser als das, was sie aus diesem Spiel hätten lernen müssen: Der BVB ist den Bayern, zumindest auswärts, nicht nur nicht mehr gewachsen. Die Dortmunder Bilanz hat schon fast HSV-Dimensionen – die Hamburger verloren ihre Spiele in München serienweise 6:0, 5:0, 9:2 oder 8:0.
Sollte jemand im Stadion nicht genau gewusst haben, wer spielt (und das kann man in der Allianz Arena nie ganz ausschließen), hätte der sich sicher gefragt: Spielt der HSV jetzt in Schwarz-Gelb?
Kein einziger Spieler überzeugte
Nach dem 3:2 gegen Inter Mailand reiste Dortmund nicht großmäulig, aber mit insgeheimer Hoffnung an. Doch wie schon im April überzeugte kein einziger Spieler. Sinnbildlich war die Leistung Achrif Hakimis, des Matchwinners vom Dienstag. Der Außenverteidiger gewährte seinem Gegenspieler Kingsley Coman stets Reisefreiheit, und hatte er vorne mal den Ball, dann nur kurz. In der Abwehrmitte öffnete Manuel Akanji die Schlagbäume in den Strafraum, etwa beim Konter zum 2:0.
Der jünglinghafte Julian Weigl war den Gegnern kein Hindernis und fiel allenfalls durch dirigierende Gesten auf, deren Adressat nicht immer auszumachen war. Nico Schulz schaffte es selten, rückwärts zu laufen und zeitgleich den Ball zu beobachten, als wäre er nicht multitaskingfähig. So hatte BVB-Sportdirektor Michael Zorc das mit dem Männerfußball nicht gemeint. Oder anders: Wenn das Männerfußball ist, dann weg damit!
Dass die Dortmunder Abwehr mit Mats Hummels stabiler geworden wäre, mag der Phantasie der vielen ihm Wohlgesonnenen entsprechen. Die vielen Gegentore für den BVB sagen etwas anderes. Er klaute auch diesmal den Stürmern einige Bälle, doch als es brannte, war er nicht immer da mit dem Wasserschlauch. Und wenn, dann ging der Ball ins eigene Tor, wie beim 4:0. Pech kam also auch hinzu.
Über die Dortmunder Defensivschwäche wunderte sich auch der anwesende Nationaltrainer. Jogi Löw sagte nach dem Spiel, er wundere sich, wie Abwehrspieler den Dauertorschützen Robert Lewandowski im Fünfmeterraum derart aus den Augen verlieren könnten, wie beim 1:0. Hummels’ Namen nannte er nicht. Das war eine elegante Antwort auf die vielen Forderungen nach einer Hummels-Rückkehr zum DFB.
Aber auch der Spielaufbau der Dortmunder war ein einziges Unglück, das Mittelfeld ein Jammertal, der Sturm ein Geisterreich. Nach vorne brachte der BVB kaum weniger als nichts zustande. 17:2 Torschüsse verzeichnete eine Statistik, 18:1 eine andere. Jadon Sancho blieb bei jedem Dribbling hängen, er wurde noch in der ersten Halbzeit ausgewechselt. Julian Brandt war beweglich, jedoch brav, Mario Götze nur brav. Thorgan Hazard brachte trotz Engagement keine Mauern zu Fall. Marco Reus schaffte nach seiner Einwechslung nicht die Wende.
Schwer tat sich auch BVB-Trainer Lucien Favre damit, das alles zu erklären. In seinen Statements fand der Schweizer Trainer nicht den Ansatz einer Analyse dieser erneuten Enttäuschung, dieser schmerzhaften Erkenntnis, dass sein BVB keine Spitzenmannschaft ist. “Das war nicht gut genug”, sagte er auf der Pressekonferenz, “das war zu wenig”. Nach ein paar knappen, bisweilen glückhaften Siegen in letzter Zeit pausierten die Debatten über ihn. Nach diesem Spiel wird der Glaube an ihn in Dortmund nicht steigen. Michael Zorc, erblasst in der Mixed Zone erschienen, sagte: “Das war gar kein Fußball. Ich bin tief enttäuscht und konsterniert. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.”
Kuriosester Auftritt des Tages. Gestatten: Lucien #Favre. #BVB #FCB #FCBBVB pic.twitter.com/uuv8pvQpo2
— Niklas Heiden (@NiklasHeiden) November 9, 2019
Und die Bayern? Karl-Heinz Rummenigge sprach vor einem riesigen Journalistenkreis von der “besten Saisonleistung”. Dem Bayern-Vorstand war wichtig, eine deutliche Steigerung der Mannschaft festzuhalten. Das passte in sein – im Feuilleton würde man jetzt sagen – Narrativ. War er es doch, der die Trennung von Niko Kovač lange vorantrieb. Tatsächlich spielte die Bayern-Elf zwar nicht fehlerfrei mit neuer Energie, wie so oft, wenn sie in die Kritik geraten war. Ihr Pressing ließ die Dortmunder oft wie Männer aussehen, halt alte Männer.
Auf Robert Lewandowski war schon wieder Verlass, er hat nach elf Spielen 16 Tore erzielt, den 40-Tore-Rekord Gerd Müllers im Visier. Der große Sieger des Tages könnte Hansi Flick sein. Vielleicht wird er doch nicht wieder abgelöst, sondern bleibt der Cheftrainer auf Dauer. Dafür spricht, dass der an diesem Abend sehr glücklich wirkende Uli Hoeneß seinen Verein sicher nicht trainerlos übergeben möchte, wenn er am kommenden Freitag als Präsident ausscheidet.
Und dennoch: bloß keine voreiligen Lehren. Denn der deutsche Clásico wurde seinem dämlichen Namen schon wieder nicht gerecht und aus einem Sieg gegen einen solch kraft- und saftlosen Gegner kann man keine allzu großen Schlüsse ziehen.